Ohne Spielzeug? – Geht doch nicht. Geht doch!

Ein Fachbericht

Ende März 2023 startete in der Kita Lingulino im U3-Bereich in den Gruppen „Eichhörnchen“ und „Igel“ das Projekt „Spielzeugfreie Zeit“

Zunächst wurde das Projekt skeptisch betrachtet, da die „Spielzeugfreie Zeit“ nur aus dem Ü3-Bereich bekannt ist und es fraglich war, ob das Projekt mit jüngeren Kindern umsetzbar ist.

Die geplante Durchführung bedurfte einer kritischen Auseinandersetzung im pädagogischen Fachkräfte-Team mit den Bedürfnissen und Entwicklungsaufgaben der Kinder im Alter zwischen einem halben und drei Jahren und dem Sinn der „Spielzeugfreien Zeit“.

Was sind Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben der Kinder im U3-Bereich?

„Für Kinder ist es wichtig, ihrer inneren Kreativität zu folgen. Es macht sie
unabhängig von äußerer Anerkennung und Zustimmung. Kreativität ist
zentral, um Selbstwert zu entwickeln. Kinder, die sich gelegentlich
langweilen, werden eine größere innere Ruhe spüren, die ihre soziale
Kompetenz fördert.“
(Jesper Juul, www.derstandard.at)

In der Altersspanne von etwa einem halben Jahr bis drei Jahre setzen sich Kinder intensiv mit ihrer direkten und unmittelbaren Umwelt auseinander. Die Welt vergrößert sich kontinuierlich und somit auch die entstehenden Konflikte, die durch die eigenen Vorstellungen und gelernten Werte und Regeln geprägt werden.

Neben der motorischen Entwicklung ist die Entwicklung der Sprache und die emotionale Entwicklung bis hin zur Empathiefähigkeit für andere, das Erlernen grundlegender Abstraktions- und Assoziationsfähigkeiten und die Erprobung individueller kindlicher Kreativität und Fantasie wichtiges Entwicklungsthema bei Kleinkindern.

Kinder brauchen dafür aufmerksame und einfühlsame Erwachsene, die feinfühlig sind und das Kind in seinem Handeln und Denken unterstützen. Damit ist nicht gemeint, dass wir alle sich entwickelnden Gefühle der Kinder hinnehmen und sie im sozial-emotionalen Raum in Watte packen und einschränken, um keine „weinenden“ oder „schreienden“ Kinder zu haben. Gefühle wollen und dürfen gelebt und gefühlt werden.

Kinder wollen explorieren, ihre Umwelt erforschen und ihre Grenzen kennenlernen. Dies geschieht durch das Tun lassen in der sicheren Umgebung der Kita Welt.

Kinder lernen in einfühlsamer Begleitung mit Alltags- und Verbrauchsmaterialien umzugehen. Sie lernen durch Erfolg und Misserfolg einen achtsamen Umgang mit den ihnen zur Verfügung gestellten Materialien. Sie lernen Regeln im Umgang mit begrenzten materiellen Ressourcen.

Durch komplexe Wahrnehmungsvorgänge, die die Kinder in dieser Zeit intensiv erfahren, lernen die Kinder eine Lösung zu finden, um Hilfe zu bitten und innere und äußere Konflikte zu regulieren.

 

Die „Spielzeugfreie Zeit“ kommt ursprünglich aus der Suchtprävention

Das Projekt „Spielzeugfreie Zeit“ wurde ursprünglich in Bayern entwickelt. Ein
Suchtarbeitskreis machte sich 1981 Gedanken, wie schon junge Kinder präventiv in
ihren Kompetenzen gefördert werden können, um später gegenüber Stress,
schwierigen Situationen und Suchtgefahren besser gewappnet zu sein.

Eine Überhäufung mit Medienangeboten (oft nicht altersgerecht), Spielzeug mit vorgegebenen Funktionen, Konsumgütern und Freizeitangeboten kann aber auch dazu führen, dass Kinder zu wenig Gelegenheit haben ,,zu sich selbst zu kommen”, ihre eigenen Bedürfnisse zu spüren, ihre eigenen Ideen und Fantasien zu entwickeln und selbstwirksam zu werden.

In einer „Spielzeugfreien Zeit“ sind Kinder mit ganz neuen, ungewohnten Situationen konfrontiert und müssen neue Wege finden. Neue Wege im Umgang mit Materialien, in der Lösungssuche, in der Ideenfindung und im sozialen Miteinander. Die Kompetenzen der Kinder sind nun ganz anders gefragt und neue Ressourcen kommen zum Vorschein.

Das Projekt ,,Spielzeugfreie Zeit“ richtet sich also nicht gegen Spielzeug, sondern ist eine Methode für einen bestimmten Zeitraum, um das Spielen neu zu erlernen und eine neue Perspektive einzunehmen. Es schafft eine Situation, in der Kinder Erfahrungen mit ihren Möglichkeiten und Grenzen machen können, in der sie sich im geschützten Rahmen des Kindergartens ausprobieren können.

 

Der erste Schritt der „Spielzeugfreien Zeit“ ist die Vorbereitung

Eltern und Kollegen werden über das Projekt informiert, Materiallisten werden erstellt und die Kinder werden auf die „Spielzeugfreie Zeit“ vorbereitet, indem z.B. die „alten“ Spielsachen „in den Urlaub geschickt“ werden.

Die Räumlichkeiten müssen entsprechend vom Spielzeug befreit und nicht sichtbar an einem anderen Ort gelagert werden. Dann werden am nächsten Tag die neuen Materialien (Kartons, Verpackungen, Alltagsgegenstände etc.) in die Gruppenräume gebracht und den Kindern zur Verfügung gestellt.

Die Erzieher*Innen treten nicht als „Animateur*Innen“, Angebotemacher*Innen, sondern lediglich als präsente Begleiter*Innen auf. Es werden keine Spiel-, Lern- und Bastelideen und Problemlösungen angeboten, sondern maximal Impulse in Form von Fragen in den Raum gegeben. Dies ist aufgrund des altersbedingten Entwicklungsstand der U3-Kinder nur bedingt möglich. Die pädagogischen Fachkräfte nehmen eine bewusst-abwartende Haltung ein, die nicht mit einer gleichgültigen Haltung verwechselt werden darf, und setzen Impulse und bieten Unterstützung bei der Verwirklichung der individuellen Bedürfnisse.

So kann es sein, dass in Beobachtungen wahrgenommene Versteckspiele zu einem Höhlen- oder Hausbau führen. Die Kinder werden zu Baumeistern und der Erwachsene hilft bei der Umsetzung und liefert Ideen und geht helfend zur Hand.

Oder das Interesse der Kinder an Autos und Kartons führt zum Bau eines Autos, das zum aktiven Spielgerät wird. Das Kind wird zum selbstwirksamen Akteur und Teil seiner eigenen Spielwelt.

Resümee

Die „Spielzeugfreie Zeit“ ist eine intensive Erfahrung sowohl für die Kinder als auch für die Erwachsenen.

Es wird schnell offensichtlich, dass die Kinder kein gekauftes, industriell gefertigtes Spielzeug brauchen. Es passiert auch leicht, dass Materialien wie Kartons und Alltagsgegenstände bei den Spielaktivitäten kaputt gehen. Die unmittelbare Erfahrung solcher Prozesse begreifen auch jüngere Kinder schnell und bei dem nächsten Karton kann man beobachten, dass sie beginnen, anders damit umzugehen. Dabei lernen die Kinder besonders voneinander, was wiederum Lerneffekte für Kommunikation und Sozialverhalten mit sich bringt. Dabei brauchen sie aufmerksame und begeisternde Erwachsene, die mit ihnen gemeinsam auf eine Entdeckungsreise gehen und sich mit Hilfe der einfachen Alltagsmaterialien auf eine fantasievolle Reise während der „Spielzeugfreien Zeit“ begeben.

Wir konnten beobachten, dass alle Kinder bislang ein gesteigertes Sozialverhalten, einen deutlich empathischeren Umgang miteinander und eine gesteigerte Kommunikation gezeigt haben. Der „schonendere“ Umgang mit den Materialien und die Konfliktlösungsstrategien der Kinder haben sich deutlich sichtbar verbessert.

Die Bedürfnisse und Entwicklungsaufgaben konnten von uns viel besser erkannt werden und gezielter gefördert werden.

Die Kinder wirken interessierter, aktiver und glücklicher.

Eltern, die bereits in der Anfangsphase des Projekts auf einem Elternabend die mittels Fotos dokumentierten Spielaktivitäten zu sehen bekamen, reagierten mit Erstaunen und dann mit Begeisterung und ihre anfänglichen Zweifel und Bedenken waren verflogen, als sie sahen, wie ideenreich und interessiert ihre Kinder ihre vielfältigen Spielaktivitäten entfalteten.

Wir können allen Kollegen*innen nur den Schritt empfehlen, sich auch einmal auf ein Abenteuer einer „Spielzeugfreien Zeit“ einzulassen.